Ein Dank an Menschen in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer

Dieser Blogeintrag wird sich nicht mit dem Corona- Virus und leergekauften Mehl-, Nudeln-, Klopapier- Regalen beschäftigen, deshalb ist er für die Damen und Herren Hamsterkäufer irrelevant.
Ich beschäftige mich hier mit einem Geschenk, das mir gemacht wurde und das mich nach fast 30 Jahren noch froh macht. Ich erhielt es unverdient, von mir unbekannten Leuten. Ich glaube, dass das der menschliche Normalfall sein könnte. So kann man ihn als Appell verstehen, gerade in Zeiten von Corona über das Teilen nachzudenken und nicht über das Einbunkern von Klopapier.

Für die Fahrt waren die Taschen rasch gepackt, ein paar Klamotten, der unvermeidliche Troyer (ein Seemannspullover), eine kleine Kameratasche mit den beiden Nikons, einem 35er und ein 85er. Beide Objektive waren lichtstark genug, um bei spärlicher Beleuchtung mit 400 ASA zu fotografieren. Viel mehr Ausrüstung besaß ich sowieso nicht. Mein Gepäck wurde durch eine Schachtel mit 50 Kodak- Schwarzweissfilmen und eine Frankreichkarte abgerundet.
Damit machte ich mich zuerst allein in der »toute petite voiture« auf die Reise.
Nach einer guten Woche, so war es verabredet, sollte mein Bruder Frank mit der Bahn nachkommen und wir wollten gemeinsam noch etwas durch Frankreich fahren. Es war Mai 1992, ich war 25, versuchte mich von der Krise meines abgebrochenen Pädagogikstudiums zu berappeln und begann, mich für Reportage- und Reisefotografie zu interessieren.
Mein Thema hatte ich auch.

Traditionell wird in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer am letzten Sonntag im Mai die große Marienwallfahrt der französischen und spanischen gitanes mit einer großen Prozession ans Meer beendet.
Ich kannte die Fotos, die der Fotograf Pan Walther bei dieser Gelegenheit in den frühen Sechzigern gemacht hat. Les Saintes- Maries und ihre spektakuläre Wallfahrt waren damals ein bevorzugtes Ziel der französischen Bohème und der Beatniks.
Walthers Fotos zeigen den »malerischen« Teil der Wallfahrt, der bis heute von vielen Besuchern gesucht wird. Ich bewunderte das Portrait der alten Dame, deren stolzes und wettergegerbtes Gesicht von der Sonne Südfrankreichs angestrahlt wird.

Mich erstaunt heute meine damalige Ahnungslosigkeit und das für mich ungewöhnliche Selbstvertrauen. Ich hatte die Dreistigkeit, zu erwarten, dass sich mir natürlich alle (Wohnwagen-) Türen auftun werden.
Hier kommt ein junger Deutscher mit seiner Ente angerauscht und begehrt, in die Runde der Wallfahrer eingelassen zu werden, um dort die Menschen der »pélérinage gitan des Saintes Maries de la Mer« zu portraitieren.
Das Wunderbare ist tatsächlich passiert (ich sehe es heute staunend an den Fotos): Man mich nicht erwartet, aber mit offenen Armen empfangen.

Die heutige elektronische Fotografie gab es damals nur in irgendwelchen Labors.- Die Entscheidung für eine bestimmte Art Kamera und einen bestimmten Film war immer eine Vorentscheidung, wie die Fotos am Ende aussehen würden. Ich wollte den echten dokumentarischen »Look«, so würde man es heute nennen.
Auch den Satz von Robert Capa »Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.« kannte ich schon. Natürlich waren die Arbeiten der Fotoagentur »Magnum« meine Vorbilder. Ein paar meiner schwarzweissen Fotos waren schon in kleinen Zeitungen und Broschüren gedruckt worden. Meine Filme entwickelte ich stolz selber. Die Abzüge von diesen Negativen machte ich in den damals aus Platzgründen immer improvisierten Fotolabors. Der Vergrößerer und die Entwicklungsbecken für die Abzüge standen auf Brettern, die ziemlich wackelig über die Ränder der Badewanne meiner damaligen Wohnung gelegt waren.
In das Badezimmerfenster hatte ich zur Verdunkelung eine Decke geklemmt, gearbeitet wurde meistens nach Einbruch der Dunkelheit. Die 20 belichteten Filme habe ich zusammen mit Dieter Drews, einem leider schon verstorbenen Fotografenfreund, entwickelt. Leider entgegen meiner Gewohnheit mit einer »Rotationsentwicklung«, um diese zeitaufwändige Arbeit zu beschleunigen. Dieter besaß, das war eine teure Angelegenheit, Entwicklungsmaschine und ein Trockengerät für die Filme. Diese Negative sind wegen der besagten Rotation ziemlich »steil«, sie haben einen hohen Kontrast und liessen sich mit meinem damaligen Vergrößerer nur mit viel Mühe vergrößern. Weisse Caravans und Wolken ,kommen´ nur, wenn man beim »Abziehen« lange nachbelichtet.

Ich hatte mir keine ernsthaften gestalterischen Gedanken gemacht, wie ich an meine Motive kommen wollte. Von solchen Gedanken war ich damals sehr unbelastet. Das kam erst später, während des Fotografie- Studiums. Man muss man diese Dinge erst lernen, um sie dann möglichst wieder abzustreifen.

Von einer sehr besonderen alten Dame, die ich ungefähr zu dieser Zeit kennenlernen durfte, habe ich ein paar Worte Romanes gelernt. Sie gehörte einer Familie von Roma an, war 1918 geboren, war mit exotischen Temperament gesegnet und war doch zugleich eine echte Berliner Pflanze und preussisch korrekt bis in den letzten Winkel ihrer einzigartigen Persönlichkeit. Der Architekt, bei dem sie vor dem Krieg als junge Frau arbeitete, nannte sie wegen ihrer klugen und charmanten Exotik liebevoll »Princess Bali«. Sie beschenkte mich mit ihrer Freundschaft und versuchte, den Enthusiasmus ihres jungen Verehrers ein wenig in sinnvolle Bahnen zu lenken. Fasziniert hörte ich mir von ihr an, wie »Schach«, ein Eintopf mit Hähnchen und Sauerkraut, zubereitet wird. Sie erzählte mir, dass ihr Vater darauf bestand, dass sich seine drei Kinder eine gute Ausbildung erarbeiten sollten. In seiner Freizeit spielte er gerne und gut Geige. Sein Repertoire bestand aus den Liedern seiner Tradition, aber auch Melodien aus Puccinis Opern, aber auch aktuellen Schlagern der Vorkriegszeit. Es muss ein ernster, aber sehr liebevoller Vater gewesen sein.

»Das wunderbare Volk« ist der Titel eines Buches von Jan Yoors, eines flämischen Künstlers. Es handelt von einem Gajo – das ist das Wort im Romanes für die, die wie ich, nicht diesem Volk angehören – und der Geschichte seiner Wahlbruderschaft mit einem Jungen aus einer Manouches- Familie. Diese Bruderschaft wurde gelebt, als die Sinti und Rom in Europa von den Deutschen verfolgt wurden. Jan Yoors ist der »Kumpania«, seiner zweiten Familie, als Jugendlicher durch halb Europa nachgereist und hat darüber einen anrührenden Bericht geschrieben. Der Verfolgung sind auch meine Freundin und ihre Familie nicht entgangen. Das Wort, das im Romanes diesen Völkermord bezeichnet, ist Porajmos. Ins Deutsche übersetzt heisst das: Das Verschlingen. Aus der Familie meiner Freundin hatten es die wenigsten überlebt.
Diese vielen Geschichten hatte ich im Kopf, als ich losfuhr, ohne Zweifel an meiner »Mission« und ebenso ahnungslos.

Auf das stundenlange Schnurren meines kleinen Boxermotors folgte bei der Ankunft erst einmal die ratlose Stille. Sicherlich habe ich mich verlegen am Kopf gekratzt, als mir ziemlich plötzlich auffiel, dass mein Schulfranzösisch nicht sehr weit half und ich genau eine Floskel im Romanes, nämlich das »Guten Tag!« sicher beherrschte.
Das Wetter bei meiner Ankunft in Les-Saintes-Maries war für Ende Mai zu kalt. Es gab immer wieder heftige Windböen und Regenschauer. Trotzdem war der Ort erfüllt von der Betriebsamkeit der vielen Familien, die, das unfreundlichen Wetter ignorierend, ihre Caravans mit Stühlen und Tischen davor installierten und Kochgelegenheiten aufbauten. Wäsche wurde gewaschen, aufgehängt und auch wieder vom plötzlichen Regen nass.


Es wurde gekocht, getafelt und gefeiert. Man lud mich tatsächlich freundlich ein, als ich so unbeholfen herumstand. Wahrscheinlich habe ich eher zum Erbarmen als nach Robert Capa ausgesehen.
Die Musik der »Gipsy Kings« war damals en vogue, bei den Rom und bei den Gaje gleichermaßen. Man hörte auch sehr häufig »Why« von Annie Lennox. Der melancholische Song wollte so gar nicht zu der festlichen Stimmung passen; ich werde ihn für immer mit einer flachen Küstenlandschaft unter fliegenden Wolken und Regen verbinden.


Eine Familie nahm mich besonders freundlich auf und lud mich mehrfach zum Essen ein. Schach aus einem großen Topf gab es auch. Besonders wundere ich mich heute, dass ich auch in ihren Wohnwagen fotografieren durfte: Das Bild einer jungen und ernsten Frau mit ihrem Kind, oder das Bild eines schlafenden Mädchens auf dem Schonbezug auf der Sitzbank. »Dreist« nannte ich mich zu Beginn, weil ich mit meiner Kamera damals so nah an den Menschen war.
Das größte Geschenk (ich bezweifele, dass mir das damals so bewusst war) war das Vertrauen, das mir meine Berliner Freundin und, später, die Menschen in Saintes- Maries entgegengebracht haben. Sie alle aufgrund ihrer Erfahrungen jedes Recht gehabt, mir zu misstrauen, oder mir – zumindest – reserviert zu begegnen. Ich habe genau das Gegenteil davon erlebt.






Nachsatz, fast dreissig Jahre später.
Zwischen 2017 und 2019 habe ich für die Hochschule Niederrhein an einem Projekt mitgearbeitet, durch das geflüchtete Menschen mit dem deutschen Arbeitsmarkt vertraut gemacht werden sollten. Es waren Menschen aus vielen Ländern: Afghanistan, Irak, Jemen, Syrien, Sudan, Ukraine. Die Liste lässt sich lange fortführen.
Diesen Menschen wurde im Rahmen dieser Veranstaltung auch die Möglichkeit gegeben, sich für ein professionelles Bewerbungsbild von mir fotografieren zu lassen.
Ich habe viele Menschen in meinem mobilen Fotostudio zu Besuch gehabt. Am ersten Tag waren es fast 30 Besucher in etwa 7 Stunden. In den Fotositzungen erfuhr ich wieder dieses Zutrauen, dass mir die Menschen während meiner lange zurückliegenden Reise entgegenbrachten und an ihre Freundlichkeit. Allen diesen Menschen schulde ich Dank.
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